Voraussetzungen und Zeitpunkt zur Bestellung eines Pflichtverteidigers
Die frühe Pflichtverteidiger-Bestellung hat größte Bedeutung für alle am Verfahren Beteiligten.
Auf europäischer Ebene wurde deshalb zur effektiven Stärkung von Beschuldigtenrechten die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 eingeführt, um einen umfassenden gemeinsamen europäischen Mindeststandard zu etablieren.
Was genau das für die Voraussetzungen und den Zeitpunkt zur Bestellung eines Pflichtverteidigers bedeutet, und ob, die Richtlinie den gewünschten Mindeststandard in Deutschland erbringt, möchte ich in diesem Beitrag genauer erläutern.
Welche Voraussetzungen gelten nun für die Bestellung eines Pflichtverteidigers in Deutschland?
Ein Fall der notwendigen Verteidigung, bei der ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, liegt vor, wenn ..
– zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet.
– dem Beschuldigten ein Verbrechen (Mindestfreiheitsstrafe 1 Jahr) zur Last gelegt wird.
– das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann.
– ein Beschuldigter vor dem zuständigen Richter aufgrund eines Haftbefehls vorgeführt wird.
– wenn dem Nebenkläger ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt wurde.
– es sich um einen seh-, hör- oder sprachbehinderten Beschuldigten handelt.
– die Schwere der Tat, die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dies erfordert.
.. und, wenn viele weitere spezielle Gründe vorliegen, die der Übersichtlichkeit wegen nicht alle hier dargestellt werden sollen.
Wer bestellt den Pflichtverteidiger?
Der Pflichtverteidiger wird vom Gericht bestellt. In vielen Fällen ist dafür ein Antrag des Beschuldigten erforderlich. Die Rechtslage in Deutschland steht hierzu im Widerspruch zu der oben genannten EU-Richtlinie. Vor der Anklageerhebung ist der Antrag bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft zu stellen, nach Anklageerhebung direkt bei Gericht. Die Staatsanwaltschaft legt einen entsprechenden Antrag unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vor.
Gibt es eine Art Qualitätssicherung bei der Auswahl des Pflichtverteidigers?
Die Qualitätssicherung war eines der Kernanliegen der EU-Richtlinie. Benennt der Beschuldigte selbst einen Verteidiger, so ist dieser regelmäßig beizuordnen. Benennt der Beschuldigte keinen Verteidiger, wird der Verteidiger vom Gericht ausgewählt und bestellt. Hierbei wäre es nach der EU-Richtlinie sinnvoll gewesen, diese Auswahl anhand einer bei den Anwaltskammern hinterlegten Liste vorzunehmen, um die fragwürdige und intransparente Beiordnungspraxis der Richterschaft zu durchbrechen. Allerdings ist diese Regelung in Deutschland nicht Gesetz geworden.
Ist ein Wechsel des Pflichtverteidigers möglich?
Gemäß § 143 a StPO kann ein neuer Pflichtverteidiger unter anderem nur dann bestellt werden, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. In größeren Verfahren können gemäß § 144 StPO ein oder zwei zusätzliche verfahrenssichernde Pflichtverteidiger bestellt werden.
Wie ist die Umsetzung der EU-Richtlinie in Deutschland also nach den oben genannten Anhaltspunkten zu bewerten?
Die Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht ist, insbesondere wegen des Antragserfordernisses, als gescheitert anzusehen. Auf einen gebotenen Nachbesserungsbedarf darf gehofft werden.
Sie haben noch Fragen zum Thema Pflichtverteidiger oder sind auf der Suche nach einer Verteidigung in Ihrem Verfahren?
Wenden Sie sich gerne vertrauensvoll an mich.
Sie erreichen meine Kanzlei telefonisch unter 0821/515109 oder per E-Mail an kontakt@anwalt-augsburg-strafrecht.de.
Ihr Rechtsanwalt Dietmar Geßler
Fachanwalt für Strafrecht